Rohrfrei 2 – Ready for the Campingklo

Cover von Jenseits von Ninive
Jenseits von Ninive
14. Februar 2016
Cover von Rohrfrei
Rohrfrei
14. Februar 2016
Cover von Rohrfrei 2

Lustige Urlaubsgeschichten von Julia Bendis, Angela Pundschus, Andreas Ballnus, Claudia Kociucki, E. M. Jungmann, Imke Brunn, Jörg Weese, Marie Louise Walter und Can Borges

Julia Bendis

Lido

17 und die Mittlere Reife mit 2,0 abgeschlossen – verlobt mit einem tollen Mann, Robert – den Ausbildungsplatz fest in der Tasche. Mein Leben ist perfekt.
Morgen fahren Robert und ich in den Urlaub. Nach Italien, genauer gesagt, nach Lido di Jesolo, und es ist das erste Mal, dass wir zwei Wochen nur für uns haben. Ohne Schulstress, ohne Ärger in Roberts Job, ohne seine Eltern. Nur er und ich – und Italien! Ich liebe Italien.
Aber vor allem liebe ich Robert, denn er hat meistens die gleichen Interessen wie ich: Spaß mit Freunden, schöne Autos, heiße Länder. Wir haben viele gemeinsame Freunde und jede Menge Spaß mit ihnen, er hat ein schönes Auto, einen BMW – und ab morgen haben wir Italien.
Robert hat alles vorbereitet: Das Auto ist über¬prüft und noch mal frisch gewaschen und poliert. Die Straßenkarten vom ADAC sind geholt, er hat die Route schon eingezeichnet. Nicht für sich, er kennt sie auswendig, aber für mich, weil er will, dass ich sie ihm während der Fahrt beschreibe. »Eine Frau muss Kartenlesen können«, sagt er, »damit sie in der Lage ist, dem Mann auch auf unbekanntem Gebiet zu sagen, wo er hinfahren muss.«
Roberts Eltern fahren jedes Jahr nach Lido, aber mit dem Wohnwagen, und da der BMW keine Anhängerkupplung hat, können wir den nicht nehmen. Also geben mir meine Eltern ihr Zelt. Es ist ein großes Familienzelt mit zwei Schlafkabinen. Mein Vater hat alle Stangen mit farbigen Isolierbändern so markiert, dass man beim Aufbauen nichts falsch machen kann. Robert hat sich das angesehen und war begeistert. Auch von dem Original-Aufbauplan, der mit im Zeltsack steckt. Trotz seines stolzen Alters von über 20 Jahren ist der Plan noch 1-A in Schuss, weil mein Vater – ein gewissenhafter Mann – ihn mit Selbstkle¬befolie überzogen hat. Auch das gefällt Robert. Er mag den Hang zum Werterhalt, der meinen Vater stark prägt, denn auch er ist sehr sparsam, um, wie er immer wieder betont, Geld für die schönen Dinge des Lebens zu haben. Also beispielsweise den BMW. Und jetzt unseren Urlaub. Er verspricht mir, es wird unvergesslich werden und ich soll mir keinen Kopf machen, weil ich nur den Zuschuss meiner Eltern von 200 Mark habe und ein klein bisschen Erspartes. Da ich nur wenig Taschengeld habe, ist das nicht viel. Aber Robert versichert mir immer wieder, es stört ihn nicht, dass er für das meiste aufkommt, schließlich bin ich die Frau, die er liebt und heiraten wird, und für mich ist ihm nichts zu teuer.
An diesem Abend gehen wir früh schlafen. Um vier Uhr will Robert aufbrechen, wegen dem Stau am Brenner, wie er sagt. »Den erreichen wir, wenn alles gut geht, um acht Uhr, dann ist da noch nicht so viel los.«
Wenngleich mich der Gedanke daran, um kurz nach drei aufzustehen, nicht eben mit Frohmut erfüllt, füge ich mich seinem reichen Erfahrungsschatz an Reisen nach Lido und behaupte: »Vier Uhr ist völlig okay.«
Wir liegen auf dem schmalen Bett in seinem Zimmer in der Wohnung seiner Eltern. Ich schmiege mich in seinen Arm und streichle seine Brust, aber er hält meine Hand fest. »Ich muss morgen fit sein, es sind über 700 Kilometer Strecke, die wir zu fahren haben. Ich kann jetzt nicht.«
So vernünftig kenne ich ihn nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich diesen Zug an ihm sonderlich mag. Aber er ist der Mann, dem ich versprochen habe, ihn zu heiraten, und der Mann, der morgen so weit fahren muss, also füge ich mich abermals und bette meinen Hintern an seinen, als er sich wegdreht und mir denselben sogleich entgegenstreckt.

Mit einem Bein noch tief im Traum, bekomme ich schlaftrunken mit, wie Robert über mich krabbelt und aus dem Bett steigt. Aus dem Esszimmer nebenan höre ich die Stimme seiner Mutter, es riecht nach frischem Kaffee und aufgebackenen Brötchen. Ich drehe mich um und ziehe mir die Decke über den Kopf. Robert geht bestimmt erst duschen, da habe ich noch ein paar Minuten Zeit.
Ich irre mich, Robert geht nicht duschen. Er kommt in das Zimmer zurück und schaltet das grelle Deckenlicht an. »Los, du musst aufstehen, das Frühstück ist fertig.« Kein ›Guten Morgen, meine Süße‹, kein Kuss … Ich rapple mich schlecht gelaunt auf, reibe mir den Schlaf aus den Augen und drücke mich von der Bettkante, immer dem Kaffeeduft nach.
Roberts Mutter hat den Tisch reich gedeckt und erwartet mich unverschämt wach dreinschauend mit einem Lächeln. »Da ist ja unsere Langschläferin.«
Ich hör wohl nicht recht! Okay, ich vergaß, dies ist eine Campingfamilie. Seit 21 Jahren fahren sie jedes Jahr nach Lido. Natürlich weiß diese Frau, wie eine Familie an so einem Morgen aufgeheitert und bewirtet werden muss, und natürlich ist sie frisch wie ein Frühlingsmorgen Mitte Mai.
Robert sitzt schon am Tisch und sieht mich aus kleinen Augen an. Auch er ist noch ziemlich müde. Seine muskulösen, braun gebrannten Arme ragen aus dem ärmellosen Shirt, das halblange braune Haar steht wild in alle Richtungen. Wie ich diesen Anblick liebe. Er versöhnt mich mit der unchristlichen Uhrzeit, mehr noch als der kräftige Kaffee, der bereits in meiner Tasse dampft.
Das Frühstück verläuft, abgesehen von Heikes (das ist Roberts Mutter) Beiträgen, wortkarg.
»Die Straßenkarten hast du?«
»Ja.«
»Und denk an die Vignette für Österreich.«
»Ich hab schon alles erledigt. Kein Problem, Mama.«
»Ich finde es ja schon ein bisschen schade, dass ihr ohne uns fahrt. Zusammen wäre das doch …«
»Das haben wir doch bereits diskutiert, Mama. Julika und ich wollen gerne alleine Urlaub machen. Wir sind erwachsen.«
»Ja, Junge, das vergesse ich manchmal. Es ging alles so schnell … eben warst du noch ein Bub …«
»Mama!«
»Ich bin ja schon still.«
Und das ist sie dann auch.
Ich trinke gerade die dritte Tasse Kaffee, gegessen habe ich infolge der frühen Stunde kaum, als Robert sagt: »Wir müssen.«
Meine Blicke gleiten zu der Uhr über der Küche. Sie zeigt 3:25 Uhr.
»Ich geh noch kurz duschen«, sage ich in Anbetracht des beachtlichen Zeitpolsters.
»Das kannst du in Lido«, wiegelt Robert ab und seine Blicke sagen mir: Dies ist kein Vorschlag, sondern eine Entscheidung.

Ich konzentriere mich auf die Straßenkarte, soweit die Straßenlaternen es zulassen. Zum Glück kenne ich den Weg zur A 8, also ist der erste Teil der Prüfung, bei dem ich Robert auf die Autobahn leiten muss, leicht bestanden. Natürlich hätte er auch ohne mich dorthin gefunden, aber er will ja, dass ich übe und ein ›guter Scout‹ werde, wie er sagt. Was das ist, weiß ich aus den Cowboy- und Indianerfilmen, die ich als Kind so gerne gesehen habe.
Bei Ulm muss ich ein bisschen aufpassen, aber ich bekomme es hin. Über die B10/B28 leite ich Robert auf die A7 und wir machen uns auf dem Weg nach Österreich. Wir sind erst eine Stunde unterwegs, als ich merke, ich könnte eine Toilette brauchen. Aber Roberts verbissenes Schweigen und das Tempo, das er macht, sagen mir, dies wäre das falsche Anliegen zu diesem Zeitpunkt.
Es geht weiter nach Füssen, wir fahren über die Fernpassstraße. Ich bin ein Mensch, der seine Bedürfnisse gut unter Kontrolle halten kann, darum habe ich bis hier durchgehalten. Jetzt, denke ich mir, wird er doch wohl bald mal anhalten, um eine zu rauchen. Robert raucht ja normal gern und viel. Aber nichts dergleichen. Er fährt stur weiter.
Wir erreichen die A12 Richtung Innsbruck. Ich bin so konzentriert auf die Karte, dass ich meinen Drang nach einer Toilette vorübergehend fast vergesse, bis er mich quälend einholt und ich mich auf meinem Sitz ein wenig versteife. Dieser verdammte Kaffee, so gut er auch war, aber ohne ihn gäbe es das Problem jetzt nicht … wir folgen den Schildern in Richtung Italien/Bozen/Brenner/Innsbruck-Süd.

Wenn dir jemand erzählt, du sollst möglichst früh am Morgen in deinen Urlaub aufbrechen, damit am Brenner kein Stau ist, glaube ihm kein Wort. Am Brenner ist immer Stau, und es ist völlig wurscht, ob du da morgens um fünf ankommst oder mittags um vier. Und ganz besonders dann, wenn du so dringend auf die Toilette musst, dass du hier und jetzt aus dem Wagen springen willst, um dich zu erleichtern, genau dann stehst du wahrscheinlich auf dem Colle Isarco Viaduct in einer sich nur zäh bewegenden Autoschlange und vollführst einen Bauchtanz im Sitzen. So geht es mir zumindest in diesem Augenblick, und ich halte es nicht mehr aus. Die Sonne bahnt sich ihren Weg zwischen den Berggipfeln hindurch, ich habe kein Auge für sie. ICH – MUSS – VERDAMMT – NOCH – MAL – AUFS – KLO! –, was ich auch leise wispere.
Robert sieht mich unverwandt an. Seine Blicke gleiten nach vorne: eine in der Morgensonne reflektierende Autoschlange; er sieht zur Seite: ein Brückengeländer, hinter dem es über 100 Meter in die Tiefe geht. Er zuckt die Schultern. »Dann geh halt hier.«
Hat er den Verstand verloren?
»Hier? Wo???«
Es gibt Momente im Leben, da ist die Gesellschaft, die Zivilisation, nicht mehr eine stählerne Fessel, sondern aus Federn. Die Regeln, die sie uns auferlegt, verwischen, unabwendbare Zwänge setzen sie außer Kraft. So zum Beispiel die Regel, nicht vor Hunderten Wildfremden die Hosen runterzulassen und auf die Straße zu urinieren. Ich muss jetzt ausgesprochen dringend auf die Toilette, es duldet keinen Aufschub mehr, was scheren mich die Menschen dort draußen, ich kenne sie ja nicht. Also steige ich aus dem Wagen. Muss mein Geschäft auf dem Seitenstreifen verrichten. Zwar hätte ich mich gerne zwischen zwei Autos gesetzt, aber was, wenn die Schlange plötzlich los¬rollt? Ich hocke also mit herunter¬gelassenem Höschen auf dem Seitenstreifen, die Sonne scheint mir auf den Hintern und ich vermeide jeden Blickkontakt in alle Richtungen. Ich sehe euch nicht, also seht ihr mich auch nicht – Wunschdenken – halb Deutschland sieht mich durch die Augen zahlloser Stausteher. Egal. Die Erleichterung, die ich im nächsten Augenblick verspüre, stellt alle Scham in den Schatten.
Als ich fertig bin, mich wieder aufrichte und zum Wagen zurück will, passiert das Unglaubliche: Die Schlange setzt sich urplötzlich zügig in Bewegung und Robert … fährt nicht rechts ran, sondern einfach weg. Ich renne ihm hinterher, höre das Geräusch von Motorrädern, drehe mich um: Carabinieri! Ob die mich vorher schon gesehen haben? Ich fürchte, das haben sie. Sie haben aufgeholt, brausen an mir vorbei und heben lachend die Hände zum Gruß.
Ich weiß nicht, ob ich Robert das je vergeben werde. Auf alle Fälle werde ich es ihm ein Leben lang vorwerfen.
Die weitere der Fahrt über lasse ich einen wahren Schauer aus heftigen Vorwürfen auf Robert nieder-prasseln. Er will aber nicht einsehen, was er falsch gemacht hat. »Wie hätte ich denn da anhalten sollen? Es ist verboten, auf der Autobahn anzuhalten. Da waren Carabinieri!«
»Und wenn es hätte sein müssen, hättest du mich bis Bozen rennen lassen?«
»Du übertreibst«, antwortet er lakonisch, danach verläuft die Fahrt in beiderseitigem Schweigen.
Erst als wir den Campingplatz erreichen, entspannt sich die Stimmung ein wenig. Allerdings schlucke ich schwer, als ich die Preise sehe: 45 Mark pro Nacht! Da hätten wir ja fast schon ein Hotelzimmer bekommen. »Da ist ja auch Strom dabei«, meint Robert und begreift meine Aufregung nicht. Ich rechne durch, was uns dieser Spaß für 14 Tage kostet, und beschließe, im nächsten Leben werde ich Campingplatzbesitzer.

Dank der Markierungen der Zeltstangen und meiner Bereitschaft, erst den Aufbauplan zu studieren und dann das Zelt aufzurichten, sitzen wir zwei Stunden später auf unseren Klappstühlen und strecken erschöpft die Beine aus. Robert streichelt meine Füße auf seinen Schenkeln und lächelt mich an. »War doch alles gar nicht so schlimm. Und warte erst mal, bis du den Strand siehst.«
Eigentlich wünsche ich mir in diesem Moment nichts mehr als ein Glas kalten Weißwein und eine Pizza, aber Robert meint, wir sollten nicht gleich am Anfang schon so viel Geld ausgeben und heute lieber selbst was kochen. Wir gehen also nicht zum Strand, obwohl ich so gern das Meer begrüßt hätte, sondern in den Supermarkt, vorbei an schönen Pizzerien, vor denen glücklich lachende, essende und trinkende Urlauber sitzen und es sich gut gehen lassen. Aber okay, Robert bezahlt den Löwenanteil des Urlaubs, also entscheidet er. Am Abend gibt es auf dem Gaskocher gekochte Spaghetti und frischen Salat. Zugegebenermaßen ist das nicht nur lecker, sondern auch sehr günstig und sogar irgendwie romantisch. Der anschließende Abendspaziergang am Strand versöhnt mich schlussendlich mit den kleinen und größeren Ärgernissen dieses Tages.

Campingplätze sind wie Plattenbauten. Man hört jedes Geräusch des Nachbarn und ist sich bewusst, ebenso gehört zu werden, was gewisse Unternehmungen etwas einschränkt. Hunderte Menschen leben auf engstem Raum und kennen einander nicht, und Nachbarschaftsstreits gehören zur Tagesordnung. So haben wir auch gleich richtig beste Freunde, denn einen Tag nach unserer Ankunft werden die Plätze vor und hinter uns von Schweizern belegt, die zusammen¬gehören und unseren Platz als Passage zwischen ihren Zelten missbrauchen, anstatt außenrum zu gehen. Das führt besonders bei schlechten Lichtverhältnissen dazu, dass ständig unser Zelt wackelt. Robert und ich sind einer Meinung: Das muss aufhören.
Als gute Deutsche halten wir an der typisch deutschen Tradition fest, unseren Willen mittels Schildern zu kommunizieren.
Kurz und prägnant sagen am Abend zwei links und rechts unseres Zeltes an den Schnüren befestigte Papierschilder aus:
»Kein Durchgang!«
Wir sind der Annahme, gute deutschsprachige Schweizer verstehen diese Botschaft und halten sich daran.
Wir täuschen uns. Schon am Morgen wackelt das Zelt erneut, als einer der Eidgenossen über die Schnüre stolpert, und wir hören, wie er laut liest, was da geschrieben steht:
»Chein Durchgang!« Er lacht und ruft den anderen Eidgenossen zu: »Ey, die Deutsche chänd ä Schild ufghängt. Chein Durchgang!«
Worauf auch der Rest der Bagage lacht.
Robert und ich sehen uns, noch im Schlafsack liegend, an und hinter unseren Stirnen brodelt der stinkende Sud der Machtlosigkeit. »Ich kläre das mit dem Platzwart«, sagt er schließlich.
»Lass uns doch umziehen«, schlage ich vor. »Ein paar Plätze weiter ist eine Gruppe Hessen, die scheinen recht nett zu sein.«
»Auf gar keinen Fall!«, kontert Robert. »Ich lass mich doch nicht von den Käsefressern vertreiben. Das hier ist schon immer unser Platz. Wir bleiben, und den Nächsten, der hier durchgeht, kaufe ich mir.«
So aggressiv kenne ich meinen Robert gar nicht. Und ich kann auch nicht behaupten, dass ich diesen Zug an ihm mag.
Am Nachmittag – Robert hat sich vor das Zelt gelegt und nimmt ein Sonnenbad – spaziere ich ein wenig alleine herum. Ich komme bei den Hessen vorbei und mir gefällt die lustige Truppe. Sie haben sich an einer Kreuzung die Eckplätze gesichert und eine Dame ruft über den Platz: »Schorsch, schau mal, mir han en neues Spiel erfunne!«
Schorsch im Zelt gegenüber schaut und die Dame dreht an einem Handfeger, den sie in die Sonnenschirmhalterung ihres Campingtisches gesteckt hat. »Der, auf den der Bese zeigt, muss ana ausgebe.«
Schorsch und die anderen lachen und er prostet der Dame mit einen Glas Weißwein zu. »Des probiere mer heut Abend gleich.«
Da wäre ich auch gerne dabei. Aber ich ahne inzwischen, mit Robert sind solche Bekanntschaften nicht zu schließen. Er bevorzugt es, unser Zelt gegen die Schweizer zu verteidigen. Deswegen hat er sein Hauptdomizil auch auf seiner Liege vor unserem Urlaubs-Heim aufgeschlagen und scheint von dort nicht mehr wegzuwollen.
Ich gehe zum Strand und blicke über den mit endlos vielen geröteten Leibern übersäten Horizont. Kinder spielen kreischend im Wasser, kaum ein Fleck Sand ist zu sehen, Handtuch an Handtuch liegen sie da und rösten sich. Ich frage mich, wo der Erholungswert eines Urlaubs liegt, bei dem man 14 Tage nur am Strand liegt und seinen Hautkrebs pflegt.
Auf meinem Rückweg komme ich an einem Zelt vorbei, vor dem eine Italienerin mit ihren beiden Söhnen im Vorschulalter sitzt und Würfel spielt. Das gefällt mir, auch ich würfle gerne. Sie kniffeln, wie ich nach ein paar Sekunden feststelle, und ich hätte mich gerne zu ihnen gesellt. Als die Frau mit den langen schwarzen Haaren aufsieht, lächelt sie mich an, winkt mir und ruft: »Ciao, come stai?«
»Molto bene«, sage ich die paar italienischen Brocken auf, die mir auf diese Frage einfallen, winke zurück und beeile mich, weiterzugehen, ehe sie noch was sagt und ich es nicht verstehe. Ich bemühe mich zwar, ein paar Höflichkeitsfloskeln der Länder zu beherrschen, die ich bereise, aber über diese hinaus reicht mein Wortschatz leider bestenfalls in englischsprachigen Regionen.
Bei unserem Zelt angekommen, finde ich den in der Sonne schlafenden Robert vor. Wir sind erst zwei Tage hier und seine Hautfarbe geht schon in ein bemerkenswertes Braun über. Ich werde leider nicht so schnell braun, eher rot. Darum setze ich mich in den Schatten und beginne, das Gemüse für das Abendessen zu schnippeln, um irgendwas zu tun.

Am folgenden Tag fahren wir nach Venedig. Ich träume davon, mit Robert eine Gondelfahrt zu machen, etwas essen zu gehen und dann vielleicht ein paar Sehenswürdigleiten zu besuchen. Tatsächlich vermiest uns schon das teure Parken die Stimmung. Robert hat plötzlich keine Lust mehr, den Lagunenteil der Stadt zu besuchen, und wir bleiben auf dem Festland. Dort ist es in meinen Augen unspektakulär; wir gehen essen, eine sehr teure Portion Spaghetti, und trinken beide nur je ein Wasser, weil uns die Preise auf der Karte förmlich umhauen. Den Traumurlaub, an den ich mich auch an meinem 50. Hochzeitstag mit Robert noch erinnern möchte, habe ich mir bis jetzt anders vorgestellt. Aber ich sage nichts. Ich will ihn nicht verärgern. Schließlich kann er nichts dafür, dass ich keine Ersparnisse habe, die es mir ermöglicht hätten, unserem Urlaub wenigstens diese Besonderheit, die Gondelfahrt in Venedig, hinzu¬zufügen.

Es ist Abend. Wir sitzen vor dem Zelt. Robert trinkt ein Bier, ich einen billigen Wein aus dem Supermarkt. Hinter uns feiern die Schweizer, die Hessen spielen lautstark und unter großem Gelächter ihr Besenspiel, dazwischen die Italienerin, deren Kinder bereits schlafen und die nun alleine vor ihrem Wohnwagen mit gut ausgestattetem Vorzelt sitzt und eine Flasche Rotwein auf dem Tisch stehen hat. Bei allen wäre ich jetzt gerne, sogar bei den Schweizern. Sie alle genießen diesen Flair, den warmen Abend, das Funkeln der Sterne am klaren Nachthimmel, den Spaß, sich zu amüsieren. Nur Robert will irgendwie nicht in diese Szene passen, freundet sich nicht mit dem an, was ihn umgibt, sondern scheint auf die eine oder andere Weise immer noch zu Hause in Stuttgart zu sein. Er trinkt sein mitgebrachtes Dosenbier und grinst mich an. Sagt: »War doch ein schöner Tag heute, bis auf die scheiß teuren Spaghetti und das Parkhaus.«
Ich pflichte ihm stumm nickend bei und betrachte ihn. Ist das der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen will? Der Mann, der keine neuen Kontakte knüpfen mag, Traumurlaubsziele einem begrenzten Budget opfert und sagt: »Ich habe übrigens vorhin noch mit dem Platzwart gesprochen. Er kennt mich, wir sind ja hier Stammgäste. Ich schätze, die Schweizer werden uns nicht länger stören.«
Hätte er nicht wenigstens diese Peinlichkeit aus-lassen und das selbst regeln können?
Ich gehe heute früher ins Bett als er. Als er nachkommt, stelle ich mich schlafend. Man sagt, gemeinsame Urlaube seien eine Bewährungsprobe für eine junge Beziehung. Das sehe ich jetzt auch so, und ich weiß nicht, ob wir diese Probe bestehen werden.
Am kommenden Tag fahren wir nach Jesolo. Wir besuchen nicht das Aquarium Reptilarium und nicht das Civic Museum of Natural History, sehen uns nicht die schon im Römischen Kaiserreich entstandene Stadt an – denn Robert hat ein ganz spezielles Anliegen. »Letztes Jahr habe ich hier einen Händler gesehen, der hat wahnsinns BBS-Alufelgen; mit ABE! Das heißt, man muss die nicht mehr eintragen lassen, und sie sind gar nicht so teuer.«
Tatsächlich landen wir in einem Felgen-Eldorado. Mindestens 100 verschiedene Arten dieser Dinger, die Männer scheinbar wesentlich glücklicher machen als eine romantische Gondelfahrt, außerdem Auspuff¬blenden, Duftbäume und sonstiger Schnickschnack sind hier in so großer Anzahl erhältlich, dass ich mir vorkomme wie eine fehlgestrandete Frau in einem Männerparadies.
Wir haben nicht genug Platz im Wagen, um vier Felgen zu laden, das beruhigt mich ein wenig, aber ich mache die Rechnung ohne den geschäftstüchtigen Händler. Der verspricht meinem mit leuchten¬den Augen dastehenden Verlobten in passablem Deutsch, die Felgen nächste Woche per Post loszuschicken, und schwupps, ist ein Kaufvertrag unterschrieben, bei dem mir fast die Augen tränen. Roberts ›Gar nicht so teuer‹ macht 250 Mark – pro Stück! – und man kann geteilter Meinung darüber sein, was nun wichtiger ist: ein Urlaub, in dem man sich wenigstens ein Mindestmaß an Luxus gönnt, oder Alufelgen, die dank ihrer Farbe (goldfarben) mehr dekadent denn edel aussehen.
Immerhin ist Robert an diesem Tag sehr glücklich und am Abend lädt er mich sogar auf eine Pizza mit Salat und einem Glas Wein im Ristorante ein.
Den nächsten Urlaubstag (ich habe bereits jedes Zeitgefühl verloren, weil eine Stunde der anderen gleicht) verbringen wir überwiegend auf unseren Liegen vorm Zelt, kochen, Robert regt sich über die Schweizer auf, die ich inzwischen schon gar nicht mehr wahrnehme, liegen wieder vorm Zelt, kochen wieder, am Abend ein Strandspaziergang, der schweigend verläuft und nichts mehr von der Romantik verströmt, die mich beim Ersten dieser Spaziergänge gefangen hatte.
In immer kürzeren Intervallen stelle ich mir die Frage, ob er wirklich der Mann ist, mit dem ich mein Leben teilen will, der Mann, der keinerlei kulturelles Interesse hat, kein Auge fürs Schöne zu besitzen scheint, sofern dieses Schöne nicht irgendwas mit Pferdestärken oder Metall zu tun hat, mit dem der allabendliche Sex zwar nett ist, aber nicht außer-gewöhnlich genug, um ihn noch viele Tausend Male wiederhaben zu wollen, der an keinen neuen Bekanntschaften interessiert ist und stattdessen lieber Abend für Abend alleine (mit mir) vorm Zelt sitzt, schweigend und Bier trinkend, nur gelegentlich mal in lästernder Manier über die anderen Campingplatzgäste spricht, und dem das Wichtigste zu sein scheint, was es am nächsten Tag zu essen gibt. Denn darüber hinaus existieren nur wenige Dinge, über die wir uns unterhalten. Meine armseligen Vorstöße, ein paar Unternehmungen im geschichtsträchtigen Umland zu machen, werden im Keim erstickt mit dem Argument: »Süße, ich habe für 1000 Mark Felgen gekauft, wir haben kein Geld, hier sinnlos herumzufahren und alte Steine anzuschauen.«

Muss ich haben!