Cover von Jenseits von Ninive
Jenseits von Ninive
14. Februar 2016
Cover des Buches Xorafedi, eine Zeichnung einer geheimnisvollen Kugelbehausung

Markus Günter und Mathias Richter

1. Kapitel

Das Findelhaus

Es war eine bitterkalte Dezembernacht. Die kleine Stadt Filéad lag still und friedlich direkt am Waldrand und wurde von leichtem Schneefall bedeckt.
Nur eine einzige Gestalt war zu dieser späten Stunde noch unterwegs. In einen warmen Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe eingepackt, marschierte sie eilig durch die Gassen. Ihre Schritte hallten von den Häuserwänden wider. Sie trug einen Rucksack und in den Armen ein kleines Bündel. Den Kopf hielt sie gesenkt, damit ihr der Schnee nicht ins Gesicht flog. Wasserdampfwölkchen bildeten sich vor ihrem Mund und zerstoben, während die Gestalt durch sie hindurchging.
Die Straßenbeleuchtung war spärlich, nur an manchen Ecken standen eiserne Kienholzhalter, die warmes, flackerndes Licht und einen harzigen Duft verbreiteten.
Die Gestalt näherte sich dem Stadtrand in Richtung des Waldes. Auf der Höhe der letzten Gebäude befand sich ein Wirtshaus. Licht fiel auf die Straße und von Gitarrenmusik untermaltes Gerede und Gelächter war vernehmbar. Über der Tür hing ein großes, rundes Holzschild mit einem Bett und einem Krug, aber die Gestalt hatte nur Augen für den Kienholzhalter darunter. Wahrscheinlich war es der letzte vor dem Wald. Sie griff sich eine Handvoll der Späne, lief weiter und blies dabei alle bis auf einen aus. Als sie nun in einen Waldweg einbog, besaß sie eine provisorische Fackel.
Sie folgte dem mäandernden Pfad tief in den dunklen Wald hinein. Der Span spendete dabei gerade so viel Licht, dass er ein kleines Stück des Weges vor ihr und die kahlen Äste der Bäume, die sich nach ihr auszustrecken schienen, erhellte. Um die Gestalt herum sanken lautlos Schneeflocken zu Boden. Der Rest der Umgebung war tiefschwarze Nacht. Bis auf die knirschenden Schritte war die Welt vollkommen still.
War ein Span fast heruntergebrannt, zündete sie an ihm einen neuen an. Nachdem sie auf diese Weise fünf Stück verbraucht hatte, konnte sie in einiger Entfernung ein kleines Licht erkennen und beschleunigte ihre Schritte. Der Weg führte sie bergab. Schließlich stand sie vor einer Steinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor, hinter dem sich schemenhaft ein großes Haus erhob. Eines der unteren Fenster war erleuchtet.
Die Gestalt drückte die schwere Klinke herunter – verschlossen. Als sie sich hilflos umsah, entdeckte sie links in der Mauer eine Drehlade mit einer Glocke.
Sie klemmte sich den noch brennenden Kienspan zwischen die Zähne und schlug die Decke des Bündels in ihren Armen zurück.
Lange schaute sie auf das friedliche Gesicht des schlafenden Kindes hinab, bevor sie die kleine Stirn küsste, bekümmert seufzte und das Bündel in die Drehlade legte. Nach einigem Zögern betätigte sie schließlich den Griff. Die Lade drehte sich mit einem leisen Quietschen, sodass sich das Bündel nun auf der anderen Seite der Mauer befand. Die Gestalt zog an dem Seil, das am Klöppel der Glocke hing, und ein dumpfer Ton erklang. Sie nahm den Span aus dem Mund, zögerte und läutete noch einmal.
Sie zündete einen neuen Span an und warf einen letzten Blick auf das Haus. Schließlich straffte sie sich und kehrte auf dem Weg um, den sie gekommen war.
Lautlos verschluckte der schwarze Wald sie.
Etwa zur selben Zeit saß Marie in dem ihr zugeteilten Zimmer, wiegte ihr Kind in den Armen und säuselte ihm beruhigende Worte zu. Ihr Kleiner war mitten in der Nacht aufgewacht, und hatte geweint und geschrien. Marie, die ihn erst vor wenigen Wochen zur Welt gebracht hatte, war auf­gestanden, hatte eine Kerze angezündet, sich mit ihm auf einen Schemel gesetzt und bot ihm nun die Brust. Während der Kleine dankbar trank, beruhigte er sich, und schließlich fielen ihm wieder die Augen zu.
Marie seufzte erleichtert. Vorsichtig stand sie auf, blies die Kerze aus und legte sich mit ihrem Kind zurück ins Bett.
Sie lauschte auf das leise Atmen ihres Kleinen und wurde dadurch wieder schläfrig. Gerade als sie im Begriff war, einzunicken, war ihr, als hörte sie ein leises, entferntes Schluchzen. Zunächst schenkte sie dem Geräusch keine Beachtung, denn schließlich war dies hier ein Findelhaus; unverheiratete, schwanger gewordene Mädchen kamen hierher, um zu gebären –
An dieser Stelle begannen zwei Stimmen in ihrem Kopf ein Streitgespräch:
»So wie du, du bist auch so eine!«
»Aber ich war doch noch so jung.«
»Oh, natürlich! Du warst ungefähr zehn Monate jünger als jetzt! Damals, als er dich am Fluss genomm-«
»Ja, ja ja, der Fluss. Wie er glitzernd dahinplät­scherte, in der bereits wärmenden Märzsonne. Und wie wir mit der Decke auf der Wiese am Ufer lagen, um uns herum die ganzen Krokusse, und er so lieb war …«
»Ach, und frag dich doch einmal, warum! Für gewöhnlich sind die Männer doch ungehobelt und haben es nicht mit Romantik! Warum also?«
»Aber ich liebte ihn doch so …«
»Wahrscheinlich hatte er genau deswegen ein so leichtes Spiel mit dir. Denkst du etwa -«
»Genug! Hör auf!«
»Du hättest wachsamer sein müssen.«
»Ja …«
während sie weiterdachte:
– und hier wurden Kinder anonym abgegeben. An welchem Ort sonst, wenn nicht in einem Findelhaus, war ein Kinderschluchzen das Normalste der Welt?
Sie schlief ein.
Und wachte erneut auf. Da war es wieder, das Schluchzen. Sie richtete sich auf. Warum beruhigte denn niemand das Kind? Das war kein Schluchzen mehr, es klang mehr wie ein kraftvolles Schreien voller Verzweiflung. Marie versuchte, das Geräusch zu lokalisieren. Es schien von draußen zu kommen. Sie sah aus dem Fenster, konnte jedoch nichts außer der undurchdringbaren Schwärze der Nacht ausmachen.
Von draußen? …
»Großer Gott!« Sie fuhr auf.
Die Drehlade!, schoss es ihr durch den Kopf. Konnte es sein, dass jemand sein Kind bei dieser Kälte …?
Hastig entzündete Marie die Kerze, griff sich ihren Mantel, fuhr in ihre Stiefel und stolperte hinaus auf den Hof.
Kälte hüllte sie ein, und kurz raste ein Gedanke an Mütze, Schal und Handschuhe durch ihren Kopf, doch da vernahm sie wieder das Schluchzen. Aber Schluchzen war falsch – Brüllen traf es besser. Und es kam tatsächlich aus Richtung des Tors.
Der Kerzenschein aus ihrem Zimmer erhellte den vorderen Hofbereich gerade so weit, dass sie sah, wo sie hintrat. Sie rannte, und bei jedem Atemzug schnitt ihr die Kälte in die Lunge. Noch bevor sie das Tor erreicht hatte, bemerkte sie das Bündel in der Lade.
Eine Decke, fuhr es ihr durch den Kopf, nur eine einzige Decke! Sie nahm das Bündel in ihre Arme, plapperte beruhigend und war schon wieder auf dem Rückweg.
In ihrem Zimmer angekommen, zog sie sich schnell bis auf die Hose aus, befreite das schreiende Kind aus der Decke und presste es an sich.
Großer Gott, wie kalt es ist!
Wie lange es dort wohl schon gelegen haben mochte, auf dem eisigen Metall der Drehlade?
Während Marie das Kind wärmend an sich drückte, es dabei wiegte und beruhigende Worte murmelte, entspannte es sich langsam etwas.
Inzwischen war auch ihr Kleiner wieder aufgewacht und jammerte, aber das war nur ein Ich-will-schlafen-Jammern und kein Hilfe-ich-erfriere-Brüllen.
Nach einer Weile wickelte sie das Kind wieder in die Decke und zog sich an. Sie nahm das Bündel und verließ das Zimmer. Marie stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf, ging bis zum Ende des Flures und klopfte an eine Tür.
»May Junkster! May Junkster, macht auf, ich bitte Euch!«, raunte sie.
Zuerst hörte sie nichts, nur das Quengeln des Bündels in ihrem Arm, doch schließlich knarrte drinnen etwas. Sie vernahm das Reißen eines Zünd­holzes und kurz darauf schlurfende Schritte. Die Tür wurde geöffnet und eine ältere Frau mit wirrem Haar und verkniffenen Augen streckte den Kopf heraus.
»Was ist denn? Ich hoffe, es ist dringend …«
»Allerdings, May Junkster! Seht doch«, schnatterte Marie aufgeregt und schlug die Decke des Bündels zurück. »Dieses arme Ding habe ich gerade aus der Drehlade geholt! Könnt Ihr Euch vorstellen, wer es zu dieser Zeit und bei dieser Kälte -«
»Nun beruhige dich erst einmal, Kind«, beschwich­tigte die Alte. »Lass mich mal sehen.« Sie nahm Marie das Bündel ab und trug es ins Zimmer.
Marie wartete unruhig vor der Tür. Die Alte schlug die Decke ganz zurück und betrachtete das Kind im Schein der Kerze. Schließlich kam sie wieder zur Tür. Beide Frauen schauten schweigend einen Moment lang auf den kleinen, nackten Jungen. May Junkster seufzte.
»Ich fürchte, der wird die nächste Zeit nicht überste­hen.«
»Was? Warum …?«, begann Marie entsetzt.
»Beruhige dich. Wie lange lag er wohl da draußen?«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht zwischen einer halben und einer Stunde.«
»Mh. Jedenfalls zu lange. Horch einmal auf sein Atmen.«
Marie legte ihr Ohr auf die kleine Brust. Bei jedem Ein- und Ausatmen hörte sie ein leises Rasseln.
»Großer Gott!«, entfuhr es ihr. »May, wer tut denn so etwas?«
»Nun, Kind, ich versuche jetzt seit gut fünfzig Jahren, die Leute zu verstehen. Bislang ist es mir nicht gelungen. Aber gib mir weitere fünfzig, dann bin ich vielleicht schlauer.«
Marie deckte das Kind wieder bis auf das Gesicht zu.
»Was wird denn nun aus ihm?«
»Hm … Wie viele Beilegekinder hast du?«
»Keins, ich habe nur meinen eigenen Kleinen. Er ist erst fünf Wochen alt.«
»Ah, sehr gut! Du hast es gefunden, also kommt es in deine Obhut. Möglicherweise ist es ja nicht für lange. Morgen kommt der Doktor. Mal sehen, was der sagt. Und nun geh wieder ins Bett, Kind.«
»Ich soll ihn …?« Marie dachte nach.
Bevor sie ins Findelhaus gekommen war, hatte sie gewusst, dass sie wahrscheinlich Beilegekinder zuge­teilt bekommen würde. So lief das nun einmal: Man bekam ein Dach über dem Kopf, Essen, durfte ungestört sein Kind gebären, und als Gegenleistung musste man sich nützlich machen. Sich ein paar Monate um Drehladenkinder kümmern und im Haus mithelfen. So waren die Regeln. Warum also nicht diesen kleinen Burschen nehmen? Irgendwie fühlte sie sich ihm verbunden. May Junkster hatte recht: Sie war es, die ihn gefunden hatte. Und falls er, Gott be­wahre!, wirklich schon bald starb, sollte er für die kurze Zeit, die ihm gegeben war, wenigstens eine Mutter haben.
»In Ordnung. Gesundheit, Freude und Schlaf, May Junkster.«
»Gesundheit, Freude und Schlaf.«
Marie ging zurück auf ihr Zimmer.
Ihr Kleiner war inzwischen wieder eingeschlafen. Sie setzte sich auf den Schemel und schlug die Decke des Bündels noch einmal zurück. Im Kerzenschein musterte sie den kleinen Neuankömmling.
Er war ein bisschen größer als ihr eigener. Seine Haut war etwas blass, aber ansonsten makellos. Auf dem Kopf waren die ersten dünnen Haare zu sehen. Die Augen waren von einem schönen Dunkelgrün, und über sowie unter den Pupillen schien der Farbton noch etwas dunkler und intensiver zu sein, sodass sie ein wenig elliptisch wirkten. Marie hielt sich ihr neues Kind noch einmal ans Ohr.
Ja, da war ein Rasseln, ohne Zweifel.
Sie konnte es immer noch nicht fassen. Wie zart doch so ein kleines Leben war. Wie konnte man nur derart kurzsichtig damit umgehen?
Sie legte eine Brust frei und bot sie ihrem Beilegekind an. Sofort begann es, daran zu nuckeln.
Mit Staunen stellte Marie fest, dass es mit einer ganz anderen Art und Weise als ihr eigenes trank. Wenn sie ihrem Kleinen die Brust anbot, erfasste er sie energisch, saugte lange und fest und kannte kein Ausruhen. Manchmal tat er ihr richtig weh. Aber dieser hier war anders. Seine Augen waren offen und in die Ferne gerichtet, er saugte ruhig und gleichmä­ßig, und manchmal machte er Pausen, so als hätte er in der Ferne gerade etwas Interessantes entdeckt, was er sich kurz näher ansehen wollte.
Marie kicherte leise.
Wieder einmal dachte sie daran, dass sie ihrem Kind noch keinen richtigen Namen gegeben hatte. Sie hatte sich einfach nicht entscheiden können, und so war er für sie stets bloß ihr Kleiner gewesen.
Und was war jetzt mit dem Neuankömmling? Der brauchte auch einen Namen. Sie beschloss, ihr eigenes Kind Barracuda und das neue Träumer zu nennen, in Anlehnung an ihr Trinkverhalten. Das war vielleicht ein wenig einfältig, aber irgendwie fühlte es sich für sie richtig an.
Nachdem Träumer satt war, fielen ihm die Augen zu. Auch Marie fühlte sich erschöpft, und so legte sie sich mit ihm neben Barracuda ins Bett, nachdem sie die Kerze ausgeblasen hatte.
Lange Zeit konnte sie nicht einschlafen und lauschte noch auf das Atmen ihrer beiden Kinder. Jetzt, da sie einmal das Rasseln in Träumers Brust vernommen hatte, war es ihr unmöglich, es nicht zu hören. Was wohl der Doktor morgen sagen würde?
Schließlich schlief sie mit bangem Herzen ein.
Am nächsten Tag räumte der Doktor dem kleinen Träumer keine große, aber immerhin eine vorhandene Chance ein. Er empfahl geheizte Bäder mit Kräuter­mischungen und riet Marie, ihn allzeit warmzuhalten. Marie hielt sich daran und verbrachte so die nächsten Tage damit, Träumer zu baden, ihn unter der Kleidung an ihrem Körper zu tragen, mit ihm vor dem Feuer zu sitzen, oder mit ihm im Bett zu liegen.
Jeden Abend lauschte sie an seiner Brust, und jedes Mal war das Rasseln ein kleines bisschen leiser geworden. Bei seinem nächsten Besuch erklärte der Doktor, der Junge sei völlig genesen.
Marie war glücklich und kümmerte sich hinge­bungsvoll um ihre beiden Kinder.
Mit der Phase des notwendigen Stillens endete auch Maries Zeit im Findelhaus. Sie hatte gute Arbeit ge­leistet, war eine vorbildliche Mutter gewesen und nun durfte sie wieder nach Hause. Zwar hatte sie sich auf diesen Moment gefreut, doch in letzter Zeit hatte sie ihm mit Schrecken entgegengesehen und sich manchmal dabei ertappt, wie sie abends vor dem Einschlafen darüber nachdachte, wie es wäre, einfach für immer hier bei den anderen Frauen und Kindern zu bleiben. Doch das ging natürlich nicht. Sie wollte ja auch weg, endlich wieder zurück in die Stadt, zu ihrer Familie und ihren Freunden, und außerdem mussten die Regeln eingehalten werden, das hatte May Junkster deutlich gemacht.
Schließlich kam der Tag, an dem Marie das Findelhaus verließ.
Sie hatte sich schon von den anderen Frauen ver­abschiedet, von denen ihr einige ans Herz gewachsen waren, und nun plapperte sie aufgeregt auf die arme May Junkster ein.
»Sie heißen Barracuda und Träumer. Ihr müsst gut auf sie Acht geben! Hier, das ist Barracudas, und das hier Träumers Decke. Gebt sie ihnen, wenn sie fortgehen, ja? Barracuda ist neugierig, Träumer eher zurückhaltend. Bitte, Ihr müsst mir versprechen, sie nicht an schlechte Leute zu geben, das versprecht Ihr mir doch, oder?«
May Junkster sagte nur hin und wieder »Ja, Kind«, oder »Natürlich, Kind«. Mehr konnte sie in Maries Redeschwall nicht einstreuen.
Als der Moment des Abschieds kam, fiel es Marie noch schwerer, als sie befürchtet hatte.
Weinend redete sie auf die Kleinen ein, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah, wünschte ihnen viel Glück und ein gutes Leben, sagte ihnen, sie sollten sich nicht unterkriegen lassen und sie werde sie immer in ihrem Herzen behalten. Und vielleicht würden sie sich eines Tages begegnen und dann nicht wissen, wer sie waren, wäre das nicht komisch?
Gott, es war so schwer. Die beiden krabbelten in­zwischen herum, spielten miteinander oder erzählten sich Dinge in ihrer eigenen Sprache.
Jetzt sahen die Jungen sie mit großen Augen an und reagierten ganz unterschiedlich auf die Situation: Barracuda wedelte mit den Armen und fragte: »Gudu, gadu?«. Träumer hatte die Beine gekreuzt und seine Hände ineinander verschränkt. Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen.
Marie spürte ihre Entschlusskraft schwinden und ihr wurde klar, dass sie jetzt gehen musste, denn später würde sie nicht mehr die Kraft dazu aufbringen.
Sie küsste die Kinder, sah sie noch einmal für einen Moment lang an, versuchte, sich ihr Bild ins Gedächtnis und ins Herz einzubrennen, wandte sich schließlich entschlossen ab und ging schluchzend durch das Tor des Findelhauses, mit einem Gefühl in der Brust, als würde ihr das Herz zerspringen.
Die Jungen wuchsen heran. Viele ebenfalls junge und unschuldige Frauen nahmen Maries Position ein, und Träumer und Barracuda wurden unzertrennlich.
Die Frauen brachten ihnen das Sprechen bei, die Anredeformen May für Frauen, Tay für Männer, den allgemeingültigen Gruß Gesundheit, Freude und Schlaf, und später auch in Grundzügen das Lesen und Schreiben.
Bald mussten die Jungen auch im Haus mithelfen, was Träumer gerne tat. Die Frauen mochten ihn, denn er war ruhig, intelligent und höflich.
Neben der Arbeit im Haus gab es noch mehr zu tun. Zum Beispiel mussten im Sommer Bettwäsche und Kleidung, die im Fluss hinter dem Grundstück gewaschen worden waren, auf lange Leinen im Hof auf- und abgehängt, und im Winter Schnee geschippt werden. Manchmal durfte Träumer in der Küche beim Zubereiten des Essens helfen.
Wenn irgendeine Arbeit anfiel, war er zur Stelle und erledigte sie gewissenhaft. Vieles tat er aus eigenem Antrieb, schließlich war das Findelhaus sein Zuhause, und er hatte das Gefühl, darauf Acht geben zu müssen. Die restliche Zeit über spielte er mit Barracuda oder anderen Kindern im Haus und auf dem Grundstück Verstecken, und besonderen Spaß machte es ihm, den Kleineren etwas beizubringen, etwa das Zählen, wie man Gemüse schälte, oder eine Schleife schnürte.
Ab und zu wurde draußen am Hauseingang eine Bimmel geläutet, und da wussten alle Kinder, dass sie sich draußen aufzustellen hatten, denn das hieß, dass jemand aus der Stadt gekommen war, um vielleicht einen von ihnen mitzunehmen.
Manche richteten sich dann schnell her, wuschen sich Gesicht und Hände, oder versuchten, sich mit den Fingern die Haare zu kämmen.
Andere taten genau das Gegenteil und wühlten im Dreck, schmierten sich Schmutz ins Gesicht und zer­zausten sich die Haare. Dafür wurden sie von den Frauen ausgeschimpft.
Für Träumer waren diese Anlässe immer ein spannendes Schauspiel. Er hatte keine Angst, dass er ausgesucht werden könnte, denn dafür war er noch zu klein. Normalerweise wurden große Jungen ausge­wählt, um auf Bauernhöfen, in Wirtshäusern oder woanders als Knechte zu arbeiten. Mädchen wurden für Adoptionen ausgesucht.
Er genoss diese Spektakel jedes Mal, denn die Leute aus der Stadt wurden von den Kindern mindestens genauso neugierig angestarrt, wie sie selbst die Kinder musterten, und das schien die meisten zu irritieren.
Doch schließlich kam auch er in das Alter, in dem die meisten Jungen ein neues Zuhause fanden. Barracuda war jedoch noch vor ihm dran; in einem Spätsommer sollte er bei der Ügiernte helfen.
Ügis waren kleine und runde, rot-orangene Dinger irgendwo zwischen Frucht und Kuchen, die es im Findelhaus manchmal als Nachtisch gab. Dass jeden Sommer ein paar Jungen für die Ernte ausgesucht wurden, war gang und gäbe, und meistens kamen diese schon nach ein paar Wochen zurück. So war es auch bei Barracuda.
Träumer vermisste seinen Freund während dessen Abwesenheit, doch die Frauen kümmerten sich in dieser Zeit besonders liebevoll um ihn. Und als Barracuda schließlich wiederkam, erzählte er von seinen Abenteuern, der Stadt, den Leuten und der Arbeit.
»Du gehst mit einer Leiter und ein paar Stofftaschen los ins Ügifeld und suchst dir einen guten, vollen Baum. Den steigst du hoch und pflückst die Ügis. Wenn Wind aufkommt, pfeifen die Dinger. Manchmal bilden sie sogar Melodien. Aber nur, wenn es sehr windig ist.«
»Mensch, dann stimmt das also!«
»Ja, und wenn du sie pflückst, hören sie auch wirklich auf, denn dann sind sie ja praktisch tot. Obwohl sie ja nicht richtig leben. Na ja, volle Taschen bringst du zu dem Wagen an der Kutsche, und wenn du mit einem Baum fertig bist, gehst du zum nächsten. Manchmal kannst du auch naschen, wenn gerade niemand guckt.« Er grinste. »Nach dem Arbeiten gehst du zusammen mit den anderen Pflückern in eine der Holzhütten, die da stehen, und da wird dann gegessen und erzählt und gelacht, und danach gehst du schlafen. Am nächsten Tag wird gemeinsam gefrühstückt, und anschließend geht’s wieder raus.« Für Träumer hörte sich das toll an.
Im nächsten Sommer wurde er ausgesucht, um bei der Ügiernte zu helfen. Es war genauso wie in Barracudas Erzählungen, und er hatte während dieser Zeit einen Heidenspaß.
Barracuda war froh, als er wieder da war, und die Frauen auch. Träumer erzählte ihnen eifrig alles, was er erlebt hatte, die Frauen lächelten und Barracuda machte eine fachmännische Miene.
Der Herbst kam, und im Winter wurde Träumer ausgesucht, um in einem Wirtshaus für einen Knecht einzuspringen, der über die kalte Jahreszeit zu seiner kranken Mutter wollte. Diese Zeit war weniger schön. Hauptsächlich stand er in der Küche oder brachte den Gästen Bier. Meistens musste er bis spät in die Nacht arbeiten, es war laut und stickig, und von dem per­manenten Biergeruch wurde ihm übel. Er vermisste Barracuda und die Frauen.
Aber auch das ging vorüber.
Es verging ein ganzes Jahr, das keine überraschen­den Geschehnisse bereithielt; Frauen kamen und gingen, und Träumer und Barracuda schossen in die Höhe. Doch im Winter geschah es.
Die Bimmel wurde geläutet, und alle Kinder zogen sich schnell etwas über und versammelten sich vor dem Hauseingang. Es hieß, zwei Männer seien gekommen, die einen Knecht für einen längeren Zeitraum suchten.
Beim Anblick der beiden Kerle vor der Kutsche hatte Träumer gleich ein mulmiges Gefühl im Magen. Der eine war älter und gut gekleidet. Er würdigte die Kinder keines Blickes, sondern stand bloß da und wartete. Der andere war jünger, groß und beleibt, und er trug einfache, abgetragene Sachen. Seine Haare glänzten fettig und sein Gesicht war grobschlächtig.
»Also, Bocker, such dir einen aus«, sagte der Ältere gelangweilt.
»Ja, Tay.« Die Stimme des Angesprochenen klang tief und abgenutzt, so als würde er normalerweise nur schreien. Er trat einen Schritt vor und musterte die Kinder mit stechendem Blick.
Bocker zeigte mit einem dicken Wurstfinger auf Tobias, den Träumer nicht besonders leiden konnte.
»Du. Komm her.«
Träumer entspannte sich etwas. Bocker betrachtete Tobias, drehte ihn herum, was an einen Tanz erinnerte, fasste an seine Oberarme und schaute ihm in den Mund und hinter die Ohren.
Das ist wahrscheinlich nur Schau, bestimmt weiß er gar nicht, warum Doktoren das manchmal tun, dachte Träumer.
»Nein, nicht groß genug«, befand Bocker, und Träumer verspannte sich wieder.
Nicht groß genug, er sucht einen Großen, Mist!, dachte er, denn für sein Alter war er nicht gerade klein. Während sich Tobias mit erleichtertem Gesicht wieder zu ihnen stellte, ging Träumer langsam in die Knie. Diese Bewegung brachte ihm Bockers Aufmerksamkeit ein.
»Du! Ja, du da. Komm her.«
Mist!, fluchte Träumer in Gedanken, und ging zu Bocker. Als er vor ihm stand, bemerkte er einen stechenden Geruch nach Schweiß. Bocker führte bei ihm dieselbe Prozedur durch wie zuvor bei Tobias. Abschließend fasste er ihn noch einmal bei den Oberarmen.
»Bist nicht gerade kräftig, hm? Aber das wird schon!« Er lachte kurz und rau. Dann schaute er zu dem Älteren an der Kutsche. »Dieser hier wäre gut, Tay.«
Der alte Mann warf Träumer einen gleichgültigen Blick zu.
»In Ordnung.« Träumer sah bedauernde Gesichter. Barracuda hatte die Augen aufgerissen. Träumer sandte ihm einen Gedanken zu: Verdammt! Und Barracudas Blick schien genau dasselbe zu sagen.
Das Prozedere nahm seinen gewöhnlichen Lauf. Die Kinder kehrten ins Haus zurück und die alte May Junkster bat die Herren in ihr Zimmer, um die Formalitäten zu erledigen.
Träumer und Barracuda saßen alleine im Esssaal. Sie brauchten nicht viele Worte, um sich zu verständi­gen.
Barracuda sagte: »Mann, das ist nicht nur ‘ne saisonbedingte Sache!«
Träumer musste grinsen. Wo Barracuda diese Wen­dung wohl wieder aufgeschnappt hatte?
»Und dieser Bocker sah nicht so aus, als wär mit dem gut Kirschen essen.«
»Ja …« Bedrückt saßen sie sich gegenüber. Plötz­lich kam May Junkster herein und setzte sich neben Träumer.
»Barracuda, würdest du …«
»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte Träumer. »Er kann bleiben.«
»Gut, wie du willst. Also, die Sache ist Folgende: Die beiden Tays suchen einen Knecht für einen Hof am Rand der Stadt.«
»Mhm, für wie lange?«
»Nun …«, die Alte wand sich. »Für einen unbegrenzten Zeitraum.«
»Ich soll für immer von hier weg?«, fuhr Träumer auf.
Gleichzeitig rief Barracuda: »Was?!«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid für dich, Junge … Und da ist noch etwas.«
»Noch etwas?!«
»Ja.« Es entstand eine Pause. »Sie wollen dich gleich mitnehmen.«
Ein unwirkliches Gefühl überkam Träumer. Er hörte nicht, wie Barracuda auf die Alte einredete und sagte, das könne man nicht machen, das dürfe man nicht machen, das sei grausam und ungerecht. Er stand an einem Scheideweg seines Lebens, das wurde ihm in diesem Moment bewusst. Was hatte er sich denn vorgestellt? Im Findelhaus alt zu werden? Es war klar gewesen, dass das hier früher oder später passieren würde.
Doch dass jetzt ausgerechnet so einer wie Bocker …
Aber man konnte sich seinen Tay nun mal nicht aussuchen. Und dass er sich von Barracuda würde trennen müssen, war ihm auch klar gewesen. Aber gleichzeitig auch irgendwie nicht.
Das Findelhaus war seine Welt, hier war sein Platz, hier wusste er, wer er war. Aber da draußen …?
Und jetzt sollte er sofort weg? Sein altes Leben von jetzt auf gleich aufgeben? Das war doch…
Er wurde wütend.
»Warum?«, unterbrach er Barracuda und die Alte. »Warum sofort? Warum können sie mich nicht in einer Woche abholen? Oder wenigstens erst morgen, damit ich mich richtig verabschieden kann? Das ist Schikane!«
»Junge, es tut mir leid, ich habe versucht, es ihnen auszureden, aber sie sagten, ihre Kutsche sei nur geliehen und müsse wieder zurück.«
»Ihre … Das darf doch nicht wahr sein!« Träumer war den Tränen nahe.
May Junkster drückte ihm etwas in die Hand.
»Hier, das ist die Decke, in der du hier angekommen bist. Und vergiss deinen Mantel nicht. Alles Gute …«, sie strich ihm über den Kopf, zögerte kurz und verließ dann den Saal.
Träumer und Barracuda saßen schweigend noch einen Moment lang da und standen schließlich auf.
»Ich weiß, es hat irgendwann so kommen müssen, Traum, aber trotzdem tut‘s verdammt weh, von dir Abschied nehmen zu müssen. Komm her.« Barracuda umarmte ihn, und er Barracuda. »Mach’s gut, du. Ich wünsch dir das Beste. War schön, dein Freund zu sein.« Mit erstickter Stimme: »Versprich mir, dass wir uns wiedersehen, versprich mir das!«
Träumer unterdrückte ein Schluchzen.
»Ich verspreche es dir, Barra. Du bist und bleibst mein Freund, und wir werden uns wiedersehen.«
Sie lösten die Umarmung und standen voreinander. Barracuda wischte sich zwei Tränen aus den Augen.
»Lass dich nicht unterkriegen.« Er streckte Träumer seine Hand hin.
Träumer nahm und schüttelte sie, und für einen Moment fühlten sie sich wie zwei Erwachsene.

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